Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Psychische Störungen

Steckbrief

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine häufige – nicht auf das Kindesalter begrenzte – Entwicklungsstörung. Für die Diagnostik und Behandlung liegen evidenzbasierte S3-Leitlinien vor (gegenwärtig in Überarbeitung). ADHS ist gehäuft mit weiteren psychischen und somatischen Erkrankungen assoziiert und stellt einen Risikofaktor für ungünstige psychosoziale Folgen einschließlich verfrühter Mortalität dar. Bis zu 80% der phänotypischen Varianz lassen sich auf genetische Faktoren und ihre Interaktion mit Umweltfaktoren zurückführen. Die Diagnostik umfasst eine gründliche klinische Differenzialdiagnostik, strukturierte Interviews und Fragebögen sowie eine Fremdanamnese. Das Behandlungskonzept basiert neben einer ausführlichen Psychoedukation wesentlich auf einer medikamentösen Behandlung und bezieht psychosoziale und vorrangig kognitiv-behaviorale Therapien mit ein. Bis zu 70% der Kinder weisen auch im Erwachsenenalter noch ADHS-Symptome und/oder funktionelle Beeinträchtigungen auf.

    Aktuelles

    • Die interdisziplinäre evidenz- und konsensbasierte (S3-)AWMF-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ wurde 2018 erstellt [1].
    • Ein evidenz-basiertes internationales Konsensuspapier mit 208 Schlussfolgerungen wurde 2021, eine aktualisierte evidenz-basierte Übersichtsarbeit zu Ätiopathogenese, Diagnostik und Behandlung 2024 erstellt [Faraone et al. 2021, Faraone et al. 2024].
    • Eine Metaanalyse an insgesamt 55374 Probanden aus 12 Kohorten konnte 12 genomweit signifikante Genloci, u.a. für FOXP2 und DUSP6, mit moderaten Odds Ratios zwischen 1,08 und 2,0 identifizieren [3].

    Synonyme

    • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
    • Aufmerksamkeitsstörung
    • Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit
    • hyperkinetische Störung (HKS)
    • hyperkinetisches Syndrom
    • Attention Deficit hyperactivity Disorder (ADHD)
    • Hyperkinetic Disorder

    Keywords

    • neuronale Entwicklungsstörung
    • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
    • hyperkinetische Störung (HKS)
    • ADHS-Komorbidität
    • ADHS-Diagnostik
    • ADHS-Therapie
    • ADHS-Leitlinie

    Definition

    • Die ADHS nach DSM-5 und die hyperkinetische Störung (HKS) nach ICD-10 beschreiben eine in der Kindheit beginnende, zumindest 6 Monate überdauernde und situationsübergreifend auftretende Entwicklungsstörung mit der Kernsymptomtrias Unaufmerksamkeit, Impulsivität und/oder motorische Unruhe. Das Ausmaß der Kernsymptome entspricht hierbei nicht dem Alter, dem Entwicklungsstand und der Intelligenz des Betroffenen.
    • Eine klinisch relevante funktionelle psychosoziale Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen, zum Beispiel im familiären, schulischen oder beruflichen Alltag, ist wesentlich.

    Epidemiologie

     

    Häufigkeit
    • ADHS gehört mit einer weltweiten epidemiologischen Prävalenz von etwa 5–7% gemäß DSM-5-Kriterien zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter; die enger definierenden ICD-10-Forschungskriterien führen zu niedrigeren Prävalenzraten von etwa 2%. Nach DSM-5-Kriterien sind etwa 3–5% der erwachsenen Allgemeinbevölkerung von ADHS betroffen.
    • Die Variation der weltweiten Prävalenzraten beruht wesentlich auf der Methodik der Erhebung und ist nicht von der geografischen Lage oder dem Jahr abhängig, in dem die Studien realisiert wurden.
    • Es gibt keine Hinweise auf eine Zunahme der weltweiten populationsbasierten Prävalenz in den letzten 30 Jahren; der Anstieg der Diagnoseraten beruht daher vermutlich auf einer verbesserten Diagnosestellung oder einer Zunahme der funktionellen Beeinträchtigung

     

    Altersgipfel
    • Die Prävalenz ist bei Kindern im Vorschulalter und in der Adoleszenz niedriger.
    • Die Prävalenzraten sind vom Alter abhängig. wobei die höheren Raten eher für den Altersbereich der Schulkinder im Alter von 6–11 Jahren gelten.
    • Die Gipfel für die Erstdiagnose variieren im Altersbereich von 5–10 Jahren [6].
    • Studien an Kindern im Schulalter zwischen 6 und 13 Jahren haben höhere Prävalenzraten ermittelt als an Vorschulkindern mit 2,0% und an Adoleszenten mit Raten zwischen 2,6 und 4,9%.

     

    Geschlechtsverteilung
    • Bis zur Adoleszenz sind Jungen häufiger betroffen als Mädchen, wobei das Ungleichgewicht in klinischen Stichproben (3–4/1) stärker ausgeprägt ist als in Feldstichproben (2/1).

    • Auch im Erwachsenenalter dominiert das männliche Geschlecht.

     

    Prädisponierende Faktoren
    • In sozial benachteiligten Familien tritt ADHS 1,5- bis 4-mal häufiger auf als in Familien mit höherem sozioökonomischem Status.
    • Epidemiologische Studien zeigen assoziative Zusammenhänge zwischen ADHS und prä- und perinatalen Risiken (z.B. mütterlicher Stress oder Nikotin- oder Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit), Umwelttoxinen (Organophosphate, PCB, Blei), ungünstigen psychosozialen Bedingungen (z.B. schwerste frühkindliche Deprivation; mütterliche Ablehnung des Kindes, niedriger sozioökonomischem Status) und diätetischen Faktoren.
    • ADHS tritt familiär gehäuft auf. Verwandte ersten Grades haben ein 5- bis 10fach erhöhtes Erkrankungsrisiko.
    • Nach Resultaten von Zwillingsstudien sind 70–80% der phänotypischen Varianz auf genetische Faktoren und ihre Interaktion mit Umweltfaktoren zurückzuführen. Etwa 20% der Varianz der Merkmalsausprägung sind durch individuell-spezifische, nichtgeteilte Umwelteinflüsse erklärbar.

    Ätiologie und Pathogenese

    • Die Vulnerabilität für ADHS wird in der Regel multifaktoriell durch das Zusammenwirken multipler Risikofaktoren bedingt. Genetische Faktoren und frühe Umweltrisiken, die komplex interagieren und die strukturelle und funktionelle Hirnentwicklung beeinflussen, bedingen neuronale Entwicklungsstörungen und eine hohe pathophysiologische Heterogenität.
    • Genomweite Assoziationsstudien fanden zahlreiche potenzielle Risikovarianten, die jeweils für sich nur eine geringe Risikoerhöhung bedingen. Diese häufigen Risikoallele beeinflussen auch die subklinische Ausprägung von ADHS-Symptomen bei Nicht-Betroffenen. Auch seltene Risikoallele, zum Beispiel Copy-Number-Varianten, erhöhen das Risiko, zeigen innerhalb einer Familie oft stärkere Effekte, erklären jedoch für die Gesamtpopulation ebenfalls jeweils nur wenig Varianz. Analysen von funktionalen Netzwerken der assoziierten Risikoallele zeigen, dass die Gene und Genprodukte verschiedene biologische Prozesse beeinträchtigen, die im Rahmen der frühen Entwicklung des Nervensystems (z.B. neuronale Zellteilung und -differenzierung, neuronale Migration, Neuritenwachstum, Zell-Zell-Kommunikation, Zytoskelett-Organisation, Synapsenbildung) von besonderer Bedeutung sind. Zudem sind Risikoallele, die Rezeptoren und Transporter des katecholaminergen und serotonergen Transmittersystems kodieren, beteiligt.
    • Die hohen Komorbiditätsraten der ADHS mit weiteren psychischen Störungen sind wesentlich durch überlappende pleiotrope genetische Risikofaktoren mitbedingt. Zudem sind einige genetische Syndrome (z.B. Fragiles-X-Syndrom, Mikrodeletionssyndrom 22q11, tuberöse Sklerose, Williams-Beuren-Syndrom) mit einer ADHS-Symptomatik assoziiert.
    • Während die kausale Relevanz massiver frühkindlicher Deprivation auf die Entwicklung von ADHS-Symptomen gezeigt ist, konnte die Kausalität für die meisten anderen Umweltfaktoren, die in epidemiologischen Studien einen Zusammenhang mit ADHS aufwiesen (s.o.), bislang allerdings nicht belegt werden. Familiäre Konflikte und überwiegend negative Eltern-Kind-Interaktionen im Vorschulalter korrelieren mit der Stabilität hyperkinetischer Auffälligkeiten.
    • Die bisherigen Befunde stützen die Hypothese, dass es sich bei dem Störungsbild um den Extrembereich einer in der Population kontinuierlich verteilten Merkmalsdimension handelt. Die bekannten Risikofaktoren sind nicht spezifisch für ADHS, erhöhen auch bei Gesunden das Ausmaß subklinischer ADHS-Symptome und das Risiko für andere psychische Störungen. Die durch einzelne Risikofaktoren aufgeklärte Populationsvarianz der Symptomatik ist gering. Der multifaktoriellen Ätiologie entspricht ein insgesamt heterogenes Profil hirnstruktureller, hirnfunktioneller, neurophysiologischer und neuropsychologischer Auffälligkeiten.
    • Neuropsychologisch zeigen Patienten mit ADHS im Vergleich zu Kontrollprobanden beeinträchtigte exekutive Funktionen (Inhibitions- und Interferenzkontrolle, Arbeitsgedächtnis, Planungsvermögen) und nichtexekutive Funktionen, die auch frühe und automatisierte Phasen der Informationsverarbeitung umfassen (Regulation von Aktivierung und Arousal, Daueraufmerksamkeit, Zeitverarbeitung, Gedächtnis, Reaktionszeitvariabilität), veränderte motivationale Prozesse und beeinträchtigte Lernprozesse (z.B. Abneigung gegen Belohnungsaufschub; reduzierte Handlungskontroll- und Fehlerverarbeitungsmechanismen). Allerdings sind diese Beeinträchtigungen und das neuropsychologische Profil nicht spezifisch für ADHS; die Effektstärken liegen nur im mittleren Bereich und nur bei etwa der Hälfte der Betroffenen liegen ausgeprägte Beeinträchtigungen vor. Gegenwärtig ist zudem unklar, inwieweit sich die ADHS-Symptome kausal auf die assoziierten neuropsychologischen Defizite zurückführen lassen.
    • Neurophysiologisch sind im Ruhe-EEG bei Teilgruppen von Kindern und Erwachsenen mit ADHS eine vermehrte Theta-Aktivität oder eine erhöhte Theta-Beta-Ratio zu finden. Verminderte langsame Oszillationen bei Kindern mit ADHS im Tiefschlaf weisen auf eine verzögerte frontale Reifung hin. Studien zur Untersuchung ereigniskorrelierter Potenziale konnten Unterschiede in der frühen Aufmerksamkeitsorientierung, den Inhibitionsprozessen, der Handlungskontrolle und Prozessen der Fehlerverarbeitung aufzeigen.
    • Die Ergebnisse struktureller und funktioneller Bildgebungsstudien legen nahe, dass die Störung insbesondere mit Entwicklungsabweichungen und Reifungsverzögerungen verschiedener kortikosubkortikaler Regelkreisen assoziiert ist, die an der Steuerung und Regulation von kognitiven, motivationalen und emotionalen Prozessen, Aktivierung und Motorik beteiligt sind.
    • Das globale Gehirnvolumen, insbesondere die graue Substanz, ist im Kindesalter durchschnittlich um etwa 3–5% vermindert. Stärker ausgeprägte Volumenminderungen, die mit dem Schweregrad der Symptomatik assoziiert sind, bestehen im Bereich frontaler und parietaler kortikaler Areale, der Basalganglien und des Kleinhirns. Diffusion-Tensor-Imaging-Studien zeigen zudem weit verteilte Veränderungen der weißen Substanz. Die kortikale Reifung ist besonders im Bereich präfrontaler Areale verzögert.
    • Die Entwicklungsverläufe dieser Auffälligkeiten sind über verschiedene Hirnregionen und Patientengruppen heterogen. Die Persistenz der Symptomatik in das Erwachsenenalter ist mit dem Fortbestehen dieser Auffälligkeiten korreliert.

    Klassifikation und Risikostratifizierung

    • Die beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 operationalisieren die Symptombereiche weitgehend übereinstimmend, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich Subtypisierungen und zusätzlicher Kriterien. Die Entwicklung von ICD-11 und DSM-5 zeigt die weitgehende Konvergenz der diagnostischen Kriterien der beiden Klassifikationssysteme.
    • Die im DSM-IV gebräuchlichen Subtypen wurden im DSM-5 aufgrund ihrer zeitlichen Instabilität und häufiger entwicklungsabhängiger kategorialer Wechsel abgeschwächt und als „Erscheinungsbilder“ definiert. Das Alterskriterium für den Beginn der Symptomatik wurde vom 7. auf das 12. Lebensjahr heraufgesetzt, im Gegensatz zum Kindesalter werden für das Erwachsenenalter eine Symptomeschwelle von 5 statt zuvor 6 geforderten Kriterien ab dem 17. Lebensjahr zur Diagnosestellung gefordert. Das Kriterium einer signifikanten Funktionsbeeinträchtigung aufgrund der ADHS-Symptomatik wurde in eine Beeinträchtigung des Alltags aufgrund der ADHS-Symptomatik verändert, die entsprechend des festgestellten Schweregrades der Beeinträchtigung spezifiziert werden kann. Neu hinzu gekommen sind die Berücksichtigung eines teilremittierten ADHS sowie eines dreigestuften Schweregrades.
    • ICD-10 fordert, dass die Störungen bereits vor dem Alter von 7 Jahren auftreten müssen. Nach den ICD-10-Forschungskriterien müssen zudem für die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) sowohl ausgeprägte Unaufmerksamkeit als auch Überaktivität und Impulsivität vorliegen (jeweils 6 Symptome erforderlich unabhängig vom Lebensalter).
    • ICD-11 übernimmt nun sowohl die Bezeichnung der ADHS als auch die Binnendifferenzierung von DSM-5 weitgehend. Ansonsten sind die Symptomkriterien von ICD-11 bewusst weniger präzise formuliert und nicht weiter operationalisiert. ICD-11 hält auch den Störungsbeginn vage – mit Beginn in der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen bis mittleren Kindheit. Die weiteren Kriterien stimmen mit ICD-10 und DSM-5 überein.
    • Diagnostische Kriterien für ADHS gemäß DSM-5:
      • A. Ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit (A1) und/oder Hyperaktivität-Impulsivität (A2), welches während der letzten 6 Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand nicht zu vereinbarenden Ausmaß aufgetreten ist und das Funktionsniveau oder die Entwicklung beeinträchtigt.
        • Für Kinder und Jugendliche bis zum 17. Geburtstag sind mindestens 6 Symptome aus A1 oder A2 erforderlich.
        • Für ältere Jugendliche und Erwachsene (17 Jahre und älter) sind mindestens 5 Symptome aus A1 oder A2 erforderlich.
        • Die Symptome sind nicht ausschließlich ein Ausdruck von oppositionellem Verhalten, Trotz, Feindseligkeit oder Unfähigkeit, Aufgaben oder Anweisungen zu verstehen.
      • B. Mehrere Symptome treten bereits vor dem Alter von 12 Jahren auf.
      • C. Mehrere Symptome bestehen in 2 oder mehr verschiedenen Lebensbereichen (z.B. zu Hause, in der Schule oder bei der Arbeit; mit Freunden oder Verwandten; bei anderen Aktivitäten).
      • D. Es sind deutliche Hinweise dafür vorhanden, dass sich die Symptome störend auf die Qualität des sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsniveaus auswirken oder dieses reduzieren.
      • E. Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z.B. affektive Störung, Angststörung, dissoziative Störung, Persönlichkeitsstörung, Substanzintoxikation oder -entzug).
    • Kodiere, falls während der letzten 6 Monate erfüllt:
      • F90.2 – gemischtes Erscheinungsbild: sowohl Kriterium A1 (Unaufmerksamkeit) als auch Kriterium A2 (Hyperaktivität-Impulsivität)
      • F90.0 – vorwiegend unaufmerksames Erscheinungsbild: Kriterium A1 (Unaufmerksamkeit), aber nicht Kriterium A2 (Hyperaktivität-Impulsivität)
      • F90.1 – vorwiegend hyperaktiv-impulsives Erscheinungsbild: Kriterium A2 (Hyperaktivität-Impulsivität), aber nicht Kriterium A1 (Unaufmerksamkeit)
    • Kodiere teilremittiert, falls die Kriterien früher vollständig, in den letzten 6 Monaten jedoch nicht erfüllt wurden und die Symptome immer noch eine Beeinträchtigung des sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsniveaus verursachen.
    • Bestimme den aktuellen Schweregrad:
      • leicht: Es treten wenige oder keine Symptome zusätzlich zu denjenigen auf, die zur Diagnosestellung erforderlich sind, und die Symptome führen zu nicht mehr als geringfügigen Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen.
      • mittel: Die Ausprägung der Symptome und der funktionellen Beeinträchtigung liegt zwischen „leicht“ und „schwer“.
      • schwer: Die Anzahl der Symptome übersteigt deutlich die zur Diagnosestellung erforderliche Anzahl oder mehrere Symptome sind besonders stark ausgeprägt oder die Symptome beeinträchtigen erheblich die soziale, schulische oder berufliche Funktionsfähigkeit.

    Symptomatik

    • Die Kernsymptome der ADHS und HKS sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und/oder motorische Unruhe. Die Ausprägungen der Kernsymptome sind in der Gesamtpopulation dimensional verteilt und stellen ein Kontinuum dar, an dessen oberem Ausprägungsende die klinisch relevante ADHS-Symptomatik steht.
    • Die Symptome können in den verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sein und treten typischerweise stärker in solchen Situationen auf, in denen eine längere Aufmerksamkeitsspanne und Ausdauer erfordert ist. Die Symptome können fehlen, wenn sich der Betroffene in einer neuen Umgebung befindet, mit einem Gegenüber konfrontiert ist oder einer interessanten Tätigkeit nachgeht. Die beobachtbare motorische Unruhe nimmt über die Transitionsphase hin ab.
    • ADHS-Symptome nach DSM-5:
      • A. Unaufmerksamkeit:
        • beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten (z.B.: übersieht Einzelheiten oder lässt sie aus; arbeitet ungenau)
        • hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrechtzuerhalten (z.B.: hat während Unterricht, Vorträgen, Unterhaltungen oder längerem Lesen Schwierigkeiten, konzentriert zu bleiben)
        • scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen (z.B.: scheint mit den Gedanken anderswo zu sein, auch ohne ersichtliche Ablenkungen)
        • führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (z.B.: beginnt mit Aufgaben, verliert jedoch schnell den Fokus und ist leicht abgelenkt)
        • hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren (z.B.: hat Probleme, sequenziell aufeinander folgende Aufgaben zu bewältigen; Schwierigkeiten, Materialien und eigene Sachen in Ordnung zu halten; unordentliches, planlos-desorganisiertes Arbeiten; schlechtes Zeitmanagement; hält Termine und Fristen nicht ein)
        • vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (z.B.: Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben; bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen: Ausarbeiten von Berichten, Ausfüllen von Formularen, Bearbeiten längerer Texte)
        • verliert häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z.B.: Schulmaterialien, Stifte, Bücher, Werkzeug, Geldbörsen, Schlüssel, Arbeitspapiere, Brillen, Mobiltelefone)
        • lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken (bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen können auch mit der aktuellen Situation nicht in Zusammenhang stehende Gedanken gemeint sein)
        • ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich (z.B.: bei der Erledigung von häuslichen Pflichten oder Besorgungen; bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen auch vergessen, Telefonrückrufe zu tätigen, Rechnungen zu bezahlen, Verabredungen einzuhalten)
      • B. Hyperaktivität und Impulsivität:
        • zappelt häufig mit Händen und Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum
        • steht oft in Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird (z.B.: verlässt eigenen Stuhl im Klassenraum, im Büro oder an anderem Arbeitsplatz oder in anderen Situationen, die erfordern, am Platz zu bleiben)
        • läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (beachte: bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben)
        • hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen
        • ist häufig „auf dem Sprung“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“ (z.B.: kann nicht über eine längere Zeit hinweg ruhig an einem Platz bleiben bzw. fühlt sich dabei sehr unwohl, z.B. in Restaurants, bei Besprechungen); dies kann von anderen als Ruhelosigkeit oder als Schwierigkeit erlebt werden, mit dem Betreffenden Schritt zu halten
        • redet häufig übermäßig viel
        • platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist (z.B.: beendet die Sätze anderer; kann in Unterhaltungen nicht abwarten, bis er/sie mit Reden an der Reihe ist)
        • kann häufig nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist (z.B.: beim Warten in einer Schlange)
        • unterbricht oder stört andere häufig (z.B.: platzt in Gespräche, Spiele oder andere Aktivitäten hinein; benutzt die Dinge anderer Personen, ohne vorher zu fragen oder ohne Erlaubnis; bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen: übernimmt oder unterbricht Aktivitäten anderer)

    Diagnostik

     

    Diagnostisches Vorgehen
    • Die Diagnose der ADHS ist, ebenso wie die aller neuropsychiatrischer Störungen, eine klinische Diagnose. Es existieren bislang keine Biomarker mit ausreichender Sensitivität und Spezifität. Dennoch lässt sich die ADHS mit hoher Sicherheit und Zuverlässigkeit diagnostizieren, wenn die diagnostischen Kriterien sorgfältig geprüft und Differenzialdiagnosen ausgeschlossen werden.
    • Die Diagnose integriert Informationen aus einer detaillierten entwicklungsbezogenen Anamnese, der Familienanamnese, der Psychodiagnostik, der körperlichen Untersuchung und der differenzialdiagnostischen Abklärung.

     

    Anamnsese
    • Die Erfassung der aktuellen klinischen Symptomatik sowie ihrer Ausprägung in verschiedenen Lebensbereichen, der komorbiden Störungen, der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte einschließlich der medizinischen Anamnese basiert im Kindes- und Jugendalter vor allem auf der Exploration der Eltern und weiterer Bezugspersonen. Die Exploration sollte stets Informationen mehrerer Beurteiler aus unterschiedlichen Lebensbereichen berücksichtigen.
    • Im Erwachsenenalter stützt sich die Diagnostik überwiegend auf die Exploration des Patienten, wobei Informationen von Angehörigen oder Dritten (z.B. Schulzeugnisse) hilfreich sein können und wenn möglich einbezogen werden sollten.
    • Hilfsmittel zur strukturierten Erfassung von ADHS-Symptomen sind (semi-)strukturierte Interviews und Checklisten zur Erhebung des klinischen Urteils sowie störungsspezifische Fragebogenverfahren zur Erfassung des Fremdurteils von Eltern, Erziehern oder Lehrern sowie des Selbsturteils. Hierzu liegen für den deutschen Sprachraum Verfahren für das Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter nach ICD-10 beziehungsweise DSM-5 vor (z.B. DISYPSIII, IDA). Fragebogenverfahren und Checklisten ermöglichen die ökonomische, systematische und standardisierte Erhebung von Informationen aus den verschiedenen Lebensbereichen, bergen allerdings die Gefahr von Verfälschungen. Die Diagnosestellung kann nicht allein aufgrund von Fragebogen erfolgen.

     

    Körperliche Untersuchung
    • Eine körperliche und neurologische Untersuchung ist zur differenzialdiagnostischen Abklärung organischer Primärstörungen, zur Identifikation möglicher Kontraindikationen für pharmakologische Interventionen und im Rahmen der Kontrolle unerwünschter Arzneimittelwirkungen indiziert. Puls und Blutdruck – sowie bei Kindern und Jugendlichen unter Stimulanzientherapie Gewicht und Körpergröße – sollten bei jeder Anpassung der Dosierung bzw. im Rahmen der Kontrolluntersuchungen im Hinblick auf altersentsprechende Normwerte überprüft werden.

     

    Labor
    • Eine routinemäßige Überprüfung von Laborparametern im Rahmen der ADHS-Diagnostik ist nicht erforderlich.
    • Labor- und apparative Untersuchungen sollen im Vorfeld einer geplanten Pharmakotherapie oder wenn sie für die Abklärung möglicher zugrundeliegender somatischer Erkrankungen oder für differenzialdiagnostische Abklärungen von Bedeutung sind, durchgeführt werden.

     

    Psychologische Diagnostik
    • Testpsychologische Untersuchungen können im Rahmen der Diagnostik ergänzend eingesetzt werden und sind zur Beantwortung spezifischer differenzialdiagnostischer Fragestellungen notwendig. Etwa die Hälfte der Betroffenen zeigt in neurokognitiven Testbatterien trotz ausgeprägter Kernsymptomatik keine Auffälligkeiten. Eine valide Intelligenzdiagnostik ist im Kindes- und Jugendalter Bestandteil einer umfassenderen Diagnostik.

    • Die Diagnose kann nicht ausschließlich auf der Grundlage von psychologischen Testverfahren gestellt oder ausgeschlossen werden.

     

    Instrumentelle Diagnostik

     

    EKG

    • Die Durchführung eines EKG, nötigenfalls auch die Konsultation eines Kardiologen, sollte vor medikamentöser Therapie erfolgen, wenn sich aus der Vorgeschichte oder bei einer körperlichen Untersuchung Hinweise auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung ergeben oder eine entsprechende familiäre Belastung vorliegt.

     

    EEG

    • Ein Elektroenzephalogramm (EEG) ist bei anamnestischen und klinischen Hinweisen auf ein Anfallsgeschehen zu veranlassen.

     

    Histologie, Zytologie und klinische Pathologie

     

    Molekulargenetische Diagnostik

    • Eine molekulargenetische Diagnostik ist erforderlich bei Hinweis auf genetische Syndrome (z.B. Fragiles-X-Syndrom, Mikrodeletionssyndrom 22q11, tuberöse Sklerose, Williams-Beuren-Syndrom), die mit einer ADHS-Symptomatik assoziiert sind.

    Differenzialdiagnosen

    Tab. 8.1 Differenzialdiagnosen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

    Differenzialdiagnose

    Bemerkungen

    Störung mit oppositionellem Trotzverhalten
    */Störungen des Sozialverhaltens*

    Die Störungen können mit Verweigerung von Aufgaben einhergehen, die Anstrengung verlangen. Im Vordergrund stehen Feindseligkeit und Negativität, die nicht aus generellen Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, resultieren. Impulsivität zeigt sich vor allem als impulsiv-aggressives Verhalten; es liegt keine Aufmerksamkeitsschwäche oder ausgeprägte motorische Unruhe vor.

    umschriebene schulische Entwicklungsstörungen*; Lernstörungen, schulische Überforderung

    Symptome treten vornehmlich im schulischen Kontext und bei intellektuellen Aufgaben auf und vermindern sich, wenn das Kind adäquat beschult wird. Indikation zur testpsychologischen Untersuchung.

    Autismus-Spektrum-Störungen*

    Es bestehen grundlegende qualitative Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion, der Kommunikation und durch begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten, die mit Unaufmerksamkeit oder Impulsivität assoziiert sein können.

    Angststörungen*

    Unaufmerksamkeit und Unruhe stehen primär in Zusammenhang mit Angst und resultieren nicht aus leichter Ablenkbarkeit.

    affektive Störungen*

    Episodisches Auftreten der Symptomatik; es handelt sich um Störungen von Konzentration und Aufmerksamkeit vergesellschaftet mit depressiven Symptomen wie Niedergestimmtheit, Antriebsminderung und Interessensverlust bzw. (hypo)manen Symptomen wie reduziertem Schlafbedürfnis, Antriebssteigerung, Logorrhö.

    Tic– und Tourette-Störungen*

    Multiple motorische Tics sind durch plötzlich einschießende Bewegungen gekennzeichnet und lassen sich von einer generalisierten motorischen Unruhe bei ADHS in der Regel gut abgrenzen.

    Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung

    Die Störung äußert sich in sozial enthemmtem impulsivem Verhalten, häufig mit Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefiziten, allerdings in der Regel nicht so durchgängig wie bei ADHS. Zudem muss die Störung ursächlich mit Deprivation in der frühen Kindheit in Zusammenhang stehen.

    disruptive Affektregulationsstörungen*

    Impulsivität tritt im Rahmen von Reizbarkeit und emotionaler Dysregulation auf.

    Persönlichkeitsstörungen*, z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)

    Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität sowie Symptome von Desorganisation, emotionaler u. kognitiver Dysregulation können auftreten; differenzialdiagnostisch Beginn der ADHS in der Kindheit, weitere Symptome der BPS wie intensive, aber instabile zwischenmenschliche Beziehungen, schwankendes Selbstbild, Dissoziationserlebnisse und erhöhte Sensitivität gegenüber empfundener Zurückweisung fehlen.

    Intelligenzminderung

    Diagnose ADHS kann gestellt werden, wenn die Symptome deutlich stärker ausgeprägt sind als aufgrund der Intelligenzminderung zu erwarten wäre. Bei geistig behinderten Kindern mit schwerer motorischer Überaktivität und ausgeprägt repetitivem und stereotypem Verhalten wird die Diagnose einer überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4) gegeben.

    posttraumatische Belastungsstörung/ Anpassungsstörungen

    Konzentrationsprobleme sind häufig, allerdings setzen die Symptome erst nach dem Trauma ein und zeigen nicht die typische Kontinuität ab dem frühen Kindesalter. Weitere Merkmale sind Dissoziationen, emotionale Taubheit und lebhaftes Wiedererinnern der Traumata.

    psychotische Prodromi

    Prodromi können mit Aufmerksamkeitsproblemen, Impulsivität und Unruhe einhergehen; zumeist bestehen weitere Symptome; Beginn in der Regel erst im Jugendalter.

    * markierte Störungen häufig auch komorbid

    Therapie

     

    Therapeutisches Vorgehen
    • Die Behandlung der ADHS soll im Rahmen eines multimodalen therapeutischen Gesamtkonzeptes erfolgen, in dem entsprechend der individuellen Symptomatik, des Funktionsniveaus sowie der Präferenzen des Patienten und seines Umfeldes psychosoziale, psychotherapeutische und pharmakologische Interventionen kombiniert werden können.

     

    Allgemeine Maßnahmen
    • Grundsätzlich soll eine umfassende Psychoedukation angeboten werden, bei der der Patient und seine relevanten Bezugspersonen über ADHS aufgeklärt werden, ein individuelles Störungskonzept entwickelt und Behandlungsmöglichkeiten dargestellt werden mit dem Ziel, eine partizipative Entscheidungsfindung zu ermöglich.

     

    Psychosoziale Therapie und weitere unterstützende Maßnahmen
    • Familien- und umfeldzentrierte verhaltenstherapeutische Interventionen sind bei Kindern im Vorschulalter und bei Kindern und Jugendlichen mit einer leichten ADHS-Symptomatik als primäre Therapieoption indiziert, bei moderater ADHS-Symptomatik können sie als Alternative zur medikamentösen Pharmakotherapie erwogen und bei starker Symptomatik als Ergänzung zu Pharmakotherapie eingesetzt werden.
    • Kognitiv-verhaltenstherapeutische (KVT) Verfahren im Einzel- und Gruppensetting werden im Kindes- und Jugendalter im Elterntraining und bei Interventionen in Schule und Kindergarten (z.B. Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten) und im Erwachsenenalter in Form spezifischer Psychotherapiemanuale angewandt.
    • Diese Interventionen zeigen im unverblindeten Urteil geringe bis mittlere Effekte auf die Kernsymptomatik der ADHS, die sich auch nach Behandlungsende stabilisieren. Allerdings konnten signifikante Effekte bei verblindeter Beurteilung bislang nicht überzeugend nachgewiesen werden. KVT-Verfahren haben jedoch positive Effekte auf das elterliche Erziehungsverhalten, auf die Sozialverhaltensprobleme sowie das Funktionsniveau der betroffenen Kinder [5].
    • Bei Erwachsenen, die unter einer ADHS-spezifischen Medikation noch Symptome aufweisen, lassen sich durch zusätzliche kognitive Einzel- oder Gruppentherapien geringe bis mittlere Effekte auf die ADHS-Symptomatik, die Depressivität und die Ängstlichkeit erzielen. Die Kombination aus Stimulanzien und strukturierter dialektisch-behavioraler (Gruppen-)Therapie ist einer Behandlung mit Placebo und selbiger Gruppenbehandlung überlegen, wie auch eine Kombination aus supportiver Beratung und Stimulanzien im Vergleich zu individueller supportiver Beratung und Placebo [4].
    • Eine Nahrungsmittelergänzung mit ungesättigten Fettsäuren erbrachte in Metaanalysen keinen bedeutsamen Effekt auf die ADHS-Kernsymptome. Auch andere diätetische Maßnahmen sind nicht generell therapeutisch geeignet.
    • Der Stellenwert von Neurofeedback ist bislang noch ungeklärt.

     

    Pharmakotherapie
    • Bei Schulkindern und Jugendlichen ist eine medikamentöse Therapie indiziert, wenn eine stark ausgeprägte ADHS-Symptomatik besteht, die zu einer erheblichen funktionellen Beeinträchtigung führt. Bei moderater Schwere kann entweder mit einer Pharmakotherapie oder mit einer nichtmedikamentösen Therapie begonnen werden.
    • Im Erwachsenenalter ist die medikamentöse Therapie bei moderat und stark ausgeprägter Symptomatik nach einer Psychoedukation primäre Behandlungsoption (Abb. 8.1).
    • Durch die medikamentöse Behandlung der ADHS werden funktionelle Beeinträchtigungen (z.B. Risiken für delinquentes Verhalten, Substanzmissbrauch, suizidales Verhalten und Unfälle) reduziert und die gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessert.
    • Bei Indikation zur Pharmakotherapie sollte die ADHS-Symptomatik (bei fehlenden begleitenden Störungen oder komorbiden Störungen des Sozialverhaltens) zunächst mit Stimulanzien (Methylphenidat, Amphetamin und Lisdexamfetamin) behandelt werden [2].
    • Häufigere unerwünschte Wirkungen sind – dosisabhängig und meist vorübergehend – Appetitminderung (ausgeprägt bei etwa 10% der Behandelten), Einschlafstörungen, Puls- und Blutdrucksteigerungen (bei etwa 5–15% stärker ausgeprägt) sowie Bauch- und Kopfschmerzen. Gelegentlich kommt es zu dysphorischen Verstimmungen, Ängstlichkeit, Irritabilität, Benommenheit, zur Exazerbation von Tics, Gewichtsverlust und einer Wachstumsverlangsamung. Es gibt keine Hinweise, dass die Rate schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse (plötzliche kardial bedingte Todesfälle, Myokardinfarkt, Schlaganfall) erhöht ist.
    • Vor der Therapie sind kardiovaskuläre Risikofaktoren abzuklären. Die Dosierung der Stimulanzien ist individuell durch einschleichende Aufdosierung über 2–3 Wochen zu bestimmen. Die Anfangsdosis im Schulalter liegt zumeist bei 5mg Methylphenidat (bzw. 2,5mg Dexamphetamin) morgens und mittags bzw. 30mg/Tag Lisdexamfetamin.
    • Unter Therapie sind regelmäßige Kontrollen möglicher Nebenwirkungen erforderlich, insbesondere von Puls und Blutdruck, und – bei Kindern und Jugendlichen – von Wachstum und Gewicht unter Berücksichtigung der entsprechenden Altersperzentilen.
    • Bei Patienten, bei denen zu wiederholten Untersuchungszeitpunkten eine Ruhetachykardie, eine Arrhythmie oder ein erhöhter systolischer Blutdruck (>95. Perzentile) festgestellt wurde, sollte – neben einer Überweisung an einen (Kinder-)Kardiologen – eine Reduktion der Dosis des jeweiligen Präparates erfolgen.
    • Nimmt ein Kind mit ADHS unter Stimulanzienmedikation nicht adäquat zu oder verlangsamt sich das Größenwachstum im klinisch relevanten Bereich, sind Therapiepausen oder eine medikamentöse Umstellung zu erwägen.
    • Bei Patienten mit Angstsymptomatik können Stimulanzien zu einer Verstärkung der Ängste beitragen. Sollte dies der Fall sein, kann eine Reduktion der Dosis des Präparates oder die Umstellung auf Atomoxetin oder Guanfacin erwogen werden.
    • Bei ca. 5–10% der Patienten mit komorbiden Tics können diese exazerbieren. Wenn die Beeinträchtigung durch die Tics gegenüber dem positiven Medikamenteneffekt überwiegt, sollte die Dosis reduziert, eine Tic-spezifische Zusatzmedikation gegeben oder auf Atomoxetin (1,2mg/kgKG/Tag) oder Guanfacin Retard (1–5mg/Tag; langsam aufdosieren) umgestellt werden.
    • Eine ADHS-Symptomatik im Rahmen von Autismus oder geistiger Behinderung kann durch eine medikamentöse Therapie gebessert werden. Allerdings sind bei Kindern mit schwerer geistiger Behinderung unter Stimulanzien relativ häufiger unerwünschte Wirkungen, wie zum Beispiel die Exazerbation ritualisierter und stereotyper Verhaltensweisen, zu erwarten.
    • Substanzmissbrauch stellt keine absolute Kontraindikation für eine Stimulanzientherapie dar. Allerdings sollte die Therapie sehr engmaschig und sorgfältig kontrolliert werden, da – insbesondere bei komorbiden Störungen des Sozialverhaltens – ein erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch besteht. Patienten mit bekanntem Substanzmissbrauch oder Hochrisikopatienten sollten keine MPH-Formulierungen mit schneller Freisetzung verordnet werden.
    • Etwa 70% der Kinder sprechen jeweils auf Dexamphetamin oder Methylphenidat an. Bei etwa 85% der Betroffenen wirkt eine der beiden Substanzen. Ist bei ausreichender Dosierung über einen Zeitraum von 6 Wochen keine hinreichend positive Wirkung zu beobachten, so sind Diagnose, Qualität der Wirksamkeitskontrolle, Dosierung und Compliance zu prüfen. Ggf. sollte die Umstellung auf ein zweites Stimulans, Atomoxetin oder Guanfacin Retard erfolgen.
    • Unerwünschte Wirkungen unter Atomoxetin umfassen – häufig nur temporär – Kopfschmerzen, abdominelle Schmerzen, Appetitminderung, Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Dysphorie, Obstipation, Sedierung, Schwindel, Übelkeit, Mundtrockenheit, Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck, wobei Ausmaß und Häufigkeit dieser unerwünschten Wirkungen dosisabhängig sind. Erektile Dysfunktion treten bei etwa 8% der Patienten auf, in Einzelfällen wurden Krampfanfälle und Leberschädigungen beobachtet. Leberspezifische Laboruntersuchungen sind aber als Teil der Routineuntersuchungen nicht erforderlich. Atomoxetin wird primär über das CYP2D6-Isoenzym verstoffwechselt, sodass bei Patienten mit langsamer CYP2D6-Verstoffwechselung oder gleichzeitiger Anwendung von CYP2D6-Inhibitoren die Dosierung adaptiert werden muss.
    • Häufige Nebenwirkungen unter Guanfacin Retard sind Somnolenz, Sedierung und Müdigkeit. Zudem muss, insbesondere zu Beginn der Behandlung, auf orthostatische Dysregulationen, Bradykardie und Blutdrucksenkungen geachtet werden. Die Wirkdauer von Guanfacin Retard erstreckt sich stabil über 24h, sodass die Tabletteneinnahme bei regemäßigem Dosisschema unabhängig von der Tageszeit einmal pro Tag erfolgen kann. Die Wirkung setzt mit 2–3 Wochen Verzögerung ein. Das Absetzen von Guanfacin sollte ausschleichend erfolgen, um einen reaktiven Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg zu vermeiden.
    • Die Dauer einer medikamentösen Behandlung bestimmt sich individuell; die Indikation für die Fortführung der medikamentösen Behandlung sollte jährlich überprüft werden. Bei längerer Symptomfreiheit sollten Auslassversuche unternommen werden.
    • Antipsychotika sollen für die Behandlung einer ADHS ohne assoziierte Störungen nicht eingesetzt werden. Bei Patienten mit ADHS und stark ausgeprägter Impulskontrollstörung und aggressivem Verhalten kann die befristete zusätzliche Gabe von atypischen Neuroleptika in Kombination mit psychosozialen oder psychotherapeutischen Interventionen zur Reduktion dieser Symptomatik erwogen werden.

    Verlauf und Prognose

    • Die Symptome der ADHS sind altersabhängig; prospektive Längsschnittstudien zeigen eine kontinuierliche Abnahme der Kernsymptomatik über die Lebensspanne, wobei die Verläufe sehr heterogen sind.
    • Regulationsstörungen im Säuglingsalter und ein schwieriges Temperament können frühe Vorläufer einer ADHS darstellen. Im Vorschulalter stehen zumeist die ausgeprägte Bewegungsunruhe und Hyperaktivität im Vordergrund. Im Grundschulalter wird die Unaufmerksamkeit mit steigenden Anforderungen deutlicher und stärker beeinträchtigend. Ab dem Jugendalter vermindert sich in vielen Fällen die motorische Unruhe und kann sich auf ein Gefühl von Ruhelosigkeit beschränken, während Schwierigkeiten in Form von Unaufmerksamkeit und Impulsivität häufig fortbestehen. Im Erwachsenenalter erfüllen noch etwa 15% die diagnostischen Kriterien nach DSM-IV, obgleich etwa 70% weiterhin Symptome oder deutliche funktionelle Beeinträchtigungen aufweisen, die trotz der Reduktion der Kernsymptomatik persistieren und sich sogar verstärken können. Im Erwachsenenalter treten begleitende Symptome emotionaler Dysregulation (geringe Frustrationstoleranz, Irritabilität, ausgeprägte Stimmungsschwankungen, verminderte Stressresistenz) und komorbide Störungen deutlicher in den Vordergrund.
    • Komorbide Störungen, welche den Verlauf ungünstig beeinflussen, sind eher die Regel als die Ausnahme. Bei über der Hälfte der Betroffenen besteht mindestens eine weitere psychische Störung. Im Kindesalter bestehen am häufigsten komorbide oppositionelle Störungen und Störungen des Sozialverhaltens (bis ca. 50%), umschriebene Entwicklungsstörungen (Motorik, Sprache, schulische Fertigkeiten: 10–25%), Angst- und Affektstörungen (ca. 25%) und Tic-Störungen (ca. 20%). Depressive Störungen und schwerere Formen von Störungen des Sozialverhaltens entwickeln sich oft nach der Grundschulzeit und in der Adoleszenz. Letztere sind ab der Adoleszenz oft mit Substanzmissbrauch und -abhängigkeit und der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen assoziiert. Während im Kindes- und Jugendalter in klinischen Stichproben etwa jeder vierte Betroffene eine affektive Störung aufweist, finden sich im Erwachsenenalter affektive Störungen bei mehr als der Hälfte der Betroffenen.
    • ADHS ist mit vielfältigen psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen und einer deutlich reduzierten gesundheitsbezogenen subjektiven Lebensqualität verbunden. Betroffene erreichen durchschnittlich schlechtere Schulleistungen, niedrigere Bildungsabschlüsse und einen geringeren sozioökonomischen Status. Die Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, Gleichaltrigen und Partnern sind häufig konfliktreich. Das Risiko für delinquentes Verhalten ist erhöht, das Selbstwerterleben häufig beeinträchtigt, und im Verlauf besteht ein erhöhtes Suizidrisiko. Die erhöhte Unfallneigung, vor allem im Straßenverkehr, trägt wesentlich zu einer insgesamt achtfach erhöhten Mortalität bei.
    • Eine positive Familienanamnese für ADHS, ungünstige psychosoziale Bedingungen, eine stark ausgeprägte Kernsymptomatik, begleitende emotionale Dysregulation und komorbide psychische Störungen stellen Risikofaktoren für einen ungünstigen Verlauf und die Persistenz des Störungsbildes dar.

    Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen

    • Die Diagnose einer ADHS soll vor dem Alter von 3 Jahren nicht gestellt werden.
    • Bei Kindern im Vorschulalter soll die Diagnose in der Regel nur bei sehr starker Ausprägung der Symptomatik gestellt werden. Eine Pharmakotherapie soll nur mit besonderer Vorsicht und nach Ausschöpfung nichtmedikamentöser Therapieoptionen erwogen werden; Stimulanzien sind tendenziell weniger wirkungsvoll und Nebenwirkungen stärker ausgeprägt.
    • Im Jugend- und Erwachsenenalter muss die im Verlauf der Pubertät oft einsetzende Verminderung der Hyperaktivität berücksichtigt werden.

    Literatur

     

    Quellenangaben
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    • [2] Cortese S, Adamo N, Del Giovane C et al. Comparative efficacy and tolerability of medications for attention-deficit hyperactivity disorder in children, adolescents, and adults: a systematic review and network meta-analysis. Lancet Psychiatry 2018; 5: 727–738. doi.org/10.1016/S2215–0366(18)30269–4
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    Literatur zur weiteren Vertiefung
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    • Banaschewski T, Coghill D, Zuddas A. Oxford Textbook of Attention Deficit Hyperactivity Disorder. Oxford, UK: Oxford University Press; 2018
    • Cortese S, Holtmann M, Banaschewski T et al. Practitioner review: current best practice in the management of adverse events during treatment with ADHD medications in children and adolescents. JCCP 2013; 54: 227–246
    • Faraone SV, Asheron P, Banaschewski T et al. Attention-deficit/hyperactivity disorder. Nat Rev Dis Primers 2015; 1: 15027
    • Faraone SV, Bellgrove MA, Brikell I et al. Attention-deficit/hyperactivity disorder. Nat Rev Dis Primers. 2024 Feb 22;10(1):11.
    • Posner J, Polanczyk GV, Sonuga-Barke E. Attention-deficit hyperactivity disorder. Lancet 2020; 395(10222): 450–462
    • Thapar A, Cooper M Attention deficit hyperactivity disorder. Lancet 2016; 387: 1240–1250

     

    Wichtige Internetadressen

     

    eRef-Link: https://eref.thieme.de/referenz/referenz_0141